Soziale Phobie 6B04 – die Angst vor Menschen und das Entwicklungstrauma
- 8. Feb.
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6B04 soziale Angststörung, ehem. „soziale Phobie“ (ICD-10 F40.1). Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einem Raum voller Menschen, das Herz rast, die Hände schwitzen und der Gedanke, einen Schritt nach vorn zu machen, erscheint wie eine unüberwindbare Hürde. Diese schmerzhafte Erfahrung ist für viele Menschen, die unter sozialer Phobie leiden, der Alltag. Laut Schätzungen sind etwa 7 % der Bevölkerung von dieser Form der Angst betroffen – das sind Millionen von Menschen, die sich im Umgang mit anderen unwohl fühlen. Ein oft übersehener Aspekt dieser Angst ist das Entwicklungstrauma – frühkindliche Erlebnisse, die zu einem zerbrechlichen Selbstbild und einer tiefen Angst vor Bewertung führen können. In diesem Artikel von Ganeshashala wollen wir die Verbindung zwischen sozialer Phobie und Entwicklungstrauma näher beleuchten.
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Kindheitstrauma, PTBS, soziale Phobie und soziale Angststörungen
„Bei PTBS treten neben anderen psychiatrischen Erkrankungen auch Angststörungen gehäuft auf (Kessler et al., 1995).
Speziell bei frühkindlichen Traumatisierungen (kPTBS) scheint das Risiko, später eine Angststörung zu entwickeln, deutlich erhöht zu sein (Philips, Hameln, Brennan, Najman, & Bor, 2005).
Eine relativ häufige Komorbidität* scheint das gleichzeitige Auftreten von PTBS, Depression und Angststörung zu sein.(Pietrzak et al., 2011).
In diesen Fällen sind die Symptome der PTBS ausgeprägt vorhanden und die funktionellen Einschränkungen verstärkt.(Post, Zoellner, Youngstrom, & Feeny, 2011).
Die Lebensqualität ist in der Regel deutlich reduzierter als bei einer PTBS ohne Komorbidität.”¹
Was ist gleich geblieben in der ICD-11?
Die diagnostischen Kriterien haben sich von ICD-10 zu ICD-11 nicht verändert. Um sich dem DSM-5 anzunähern, lautet die Diagnosebezeichnung nun „Soziale Angststörung“.²
Was ist neu bei der Diagnose „soziale Angststörung“ in der ICD-11?
„Die Neuordnung der Angst- oder furchtbezogenen Störungen (6B0*) in der ICD-11 wird, auch im Vergleich zum DSM-5, beschrieben. Wichtigste Veränderungen sind die gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Kategorien „Panikstörung“ und „Agoraphobie“, die Einordnung von „Trennungsangststörung“ und „Selektiver Mutismus“ in das Kapitel sowie die Auflösung der meisten Hierarchieregeln. „³
“In dieser Kategorie finden sich jetzt, dem Titel gemäß, der den Begriff „neurotisch“ nicht mehr enthält, nur noch Störungen, die primär durch Angst oder Furcht charakterisiert sind. Es gibt
keine Trennung in „Phobien“ (F40) und „andere Angststörungen“ (F41),
es gibt keine hierarchischen Diagnoseregeln mehr und
es ist immer eine signifikante funktionelle Beeinträchtigung zur Diagnosestellung notwendig.
Für die „generalisierte Angststörung“ (6B00) wurde neben einer allgemeinen Besorgnis hinsichtlich alltäglicher Ereignisse im Sinne einer frei flottierenden Angst
das alternative Kriterium der übermäßigen Besorgnis hinsichtlich Ereignissen in Familie, Gesundheit, Finanzen, Schule oder Beruf eingeführt.
Für die Diagnose einer „Panikstörung“ (6B01) ist nunmehr die Furcht vor der Panikattacke selbst diagnostisch relevant.
Für das nun von der Panikstörung auch unabhängig diagnostizierbare Störungsbild der „Agoraphobie“ (6B02) wurde der Fokus stärker auf die Kernsymptomatik gerichtet, also die Angst und Vermeidung von Situationen, in denen eine Flucht schwierig sein könnte, oder keine Hilfe verfügbar ist.”²
Angststörungen: Diagnosen und Codierung nach ICD-11
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat im Juni 2018 die 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD – International Classification of Diseases) als „ICD-11“ veröffentlicht.
In der ICD-11 werden Ängste bzw. Angststörungen unter der Codierung ICD-11 6B0 als „Angststörungen oder mit Angst in Verbindung stehende Krankheiten“ geführt:
6B0 Angststörungen
6B00 generalisierte Angststörung (ICD-10 F41.1)
6B01 Panikstörung (ICD-10 F41.0)
6B02 Agoraphobie (ICD-10 F40.0)
6B03 spezifische Phobien (ICD-10 F40.2)
6B04 soziale Angststörung (ICD-10 F40.1)
6B05 Trennungsangststörung
6B06 selektiver Mutismus
6B0Y andere spezifische Angststörungen (ICD-10 F41.8)
6B0Z Angststörungen, nicht näher bezeichnet (ICD-10 F41.9)
Diagnosekriterien 6B04 „soziale Phobie“ (ehem. ICD-10 F40.1)
Nach den Forschungskriterien der ICD-11 werden folgende häufige und typische Angstsymptome aufgelistet:
Vegetative Symptome
1. Palpitationen**, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. Fein- oder grobschlägiger Tremor***
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose****).
Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen
5. Atembeschwerden
6. Beklemmungsgefühl
7. Thoraxschmerzen oder Missempfindungen
8. Nausea oder abdominelle Missempfindungen
Psychische Symptome
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Derealisation oder Depersonalisation
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben
Allgemeine Symptome
13. Hitzewallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle
Symptome der Anspannung (nur bei der generalisierten Angststörung)
15. Muskelverspannung, akute oder chronische Schmerzen
16. Ruhelosigkeit und Unfähigkeit zum Entspannen
17. Gefühle von Aufgedrehtheit, Nervosität und psychischer Anspannung
18. Kloßgefühl im Hals oder Schluckbeschwerden
Unspezifische Symptome (nur bei der generalisierten Angststörung)
19. Übertriebene Reaktion auf kleine Überraschungen oder Erschrecktwerden
20. Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühl im Kopf wegen Sorgen oder Angst
21. Anhaltende Reizbarkeit
22. Einschlafstörungen wegen Besorgnis
Differenzialdiagnose soziale Ängste und komplexe PTBS
Wenn Sie die oben aufgelisteten Diagnosekriterien als selbst Traumabetroffene studiert haben, werden Sie erkennen,
dass einige der Symptome von sozialer Angststörung sich mit Symptomfeldern von posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS) überschneiden.
Daher ist es dringend notwendig und ratsam, die Differenzdiagnostik durch ausgebildete Spezialisten und Ärzte durchführen zu lassen.
Denn die Diagnostik bildet stets die Grundlage für weitere Maßnahmen und die Behandlung.
Interessantes bezüglich Angst in der ICD-11
„Angst“ wird entsprechend dem englischen Sprachgebrauch unter verschiedenen Codierungen aufgeführt. In der deutschen Sprache werden diese Nuancierungen häufig nicht betrachtet:
Angst (Ängstlichkeit, Besorgnis) („Anxiety“) wird unter ICD-11 MB24.3 codiert,
Angst (Furcht, Angstgefühl) („Fear“) unter ICD-11 MB24.A und
Sorge („Worry“) unter ICD-11 MB24.H.
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Quellangaben:
1: Jan Gysi: Diagnostik von Traumafolgestörungen. Multiaxiales-Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11. 2. Auflage. 2022. Seite 268.
3: Nervenheilkunde 2024; 43(04): E2-E2. DOI: 10.1055/s-0044-1787464. Psychische Störungen in der ICD-11. Ein Gesamtüberblick über die wichtigsten Änderungen. Henrik Walter, Ronja Husemann, Lars P. Hölzel.
4: Nervenheilkunde 2024; 43(04): 203–208. DOI: 10.1055/a-2216-7172. Artikel online veröffentlicht: 11. April 2024. © 2024. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG. Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany.
Index:
* Komorbidität also, das gleichzeitige Vorkommen von zwei oder mehr verschiedenen Erkrankungen
**Palpitation: das subjektive Gefühl, dass das Herz zu schnell und zu stark und/oder unregelmäßig schlägt
***Tremor: Bewegungsstörung, Koordinationsstörung der Extremitäten (Hände, Füße, Beine, Kopf)
****Exsikkose: eine starke Austrocknung des Körpers durch Verlust von Körperwasser
Video: 🎥Aus diesem Video erfahren Sie viele traumatische Ursachen aus der Kindheit, die soziale Angststörungen verursachen können:
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